Nummer 7/2024
Beziehung ohne Streit?

Möglich, aber nicht sinnvoll.

Redaktionelle Einleitung:
Diese vorweggenommenen Conclusio des Autors hat nicht nur für Paarbeziehungen oder in betrieblichen Strukturen Gültigkeit, sondern ist auch in familiären Beziehungen von Bedeutung. Streit kommt schließlich in den besten Familien vor. Und da eine Studentenverbindung aus Bundesbrüdern (bzw. -schwestern) besteht, sind auch Organisationen wie diese keinesfalls gegen teils heftige – und oft unnötige – Streitereien gefeit. Daher möchten wir in dieser Ausgabe den nachfolgenden Artikel aus der Verbandszeitschrift 'COULEUR', Ausgabe 4/2023 wiedergeben, um anzuregen über die Streitkultur im jeweils eigenen Umfeld nachzudenken. (raf)


In der modernen Gesellschaft wird oft das Bild von Perfektion in Beziehungen propagiert. Paare, Vorgesetzte und Mitarbeiter, die Menschen generell sollen immer harmonisch miteinander umgehen, niemals streiten und sich ständig verständnis- und liebevoll verhalten. Aber ist das wirklich realistisch? Und vor allem: Ist das wirklich erstrebenswert? Eine Form der Philosophie des Streits besagt, dass Konflikte und Auseinandersetzungen in einer Beziehung nicht vermieden werden können und auch gar nicht vermieden werden sollten, da sie einen wichtigen Bestandteil einer gesunden Partnerschaft darstellen. Richtig ausgetragener Streit in einer Beziehung kann dann sowohl dazu beitragen, dass Probleme gelöst werden, als auch dass die Beziehung gestärkt wird. Das gilt aber nicht bloß für individuelle Beziehungen, sondern auch im Sinne des berühmten Ausspruchs 'Krieg [übers. auch: Streit] ist der Vater aller Dinge'. Schon der Verfasser dieses Zitats, der griechische Philosoph Heraklit, hat gezeigt, dass Streit in menschlichen Beziehungen und innerhalb der Natur zu Recht besteht und dass alles durch Streit und Notwendigkeit entsteht. (Vgl. Diehls/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, Frgm. 80)

Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass jeder Mensch unterschiedliche Meinungen, Bedürfnisse und Werte hat. Es ist völlig normal, dass es zu Konflikten kommt, wenn zwei Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Lebenserfahrungen und Haltungen aufeinandertreffen. Der Streit ist daher eine natürliche Reaktion auf die Vielfalt an Meinungen und Perspektiven, die in jeder Beziehung vorhanden sind. Ein gelungener Streit in einer Beziehung bietet die Möglichkeit, dass beide Partner ihre Sichtweisen und Gefühle äußern, miteinander kommunizieren und Kompromisse finden können. Das kann dazu beitragen, dass die Beziehung insgesamt gestärkt wird, da beide Seiten ein besseres Verständnis füreinander entwickeln und lernen, respektvoll miteinander umzugehen.

Darüber hinaus kann ein Streit in einer Beziehung auch dabei helfen, bestehende Probleme anzusprechen und Lösungen dafür zu finden. Oftmals bleiben Konflikte ungelöst im Raum stehen und fressen sich langsam aber sicher durch die Beziehung. Ein offener Streit kann dabei helfen, diese Probleme anzusprechen und gemeinsam nach einer Lösung zu streben. Wenn so nach Ergebnissen und Ausgleich gesucht wird, ist ein gedeihliches Zusammenleben möglich. Das hat auch der Philosoph, Dichter und Schriftsteller Günther Anders in seinem Hauptwerk über 'Die Antiquiertheit des Menschen' (Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 1956) dargelegt: Der Mensch entwickelt sich zu einem vernünftigen und fühlenden Ganzen über Antagonismen, über Differenzen, und bearbeitet diese in einer streitbaren Auseinandersetzung. Auf solchen 'Schlachtfeldern' stellen die Menschen jene Beziehung zueinander her, die Neigungen, Pflichten, Fühlungsnähe und Zusammengehörigkeit etabliert und/oder festigt.

Verblasst dieser wechselvolle Streit, diese Form der (positiven) Auseinandersetzung, vergeht auch die individuelle wie kollektive Identität. Es bliebe dann nur mehr, mit G. Anders gesprochen, eine 'Hülle des Produzierenden'. Nichts anderes war für ihn auch die Trennung der Identitäten im Nationalsozialismus, wenn ein Wärter im Konzentrationslager beispielsweise fähig war, einerseits die Insassen nicht als Menschen zu behandeln und andererseits zuhause ein liebender Ehemann, Vater zu sein. Hier trifft sich seine Analyse mit der von Hannah Arendt (mit der er übrigens von 1929-1937 verheiratet war): Erst wenn es diese Auseinandersetzungen nicht mehr gibt, wird es möglich, die Menschen wie auch sich selbst nur mehr als kleine Rädchen in der großen Maschine wahrzunehmen, nicht mehr als (Beziehungs-) Personen, und deshalb kann man ohne Widerspruch und Reflexion einfach mechanisch 'nur Befehle befolgen'. Die Streitvergessenheit beförderte damit dieses Unrechtssystem beziehungsweise ermöglichte diese Unmenschlichkeit erst.

Eine Beziehung, in der nie gestritten wird, kann auch ein Zeichen dafür sein, dass Konflikte unter den Teppich gekehrt werden und nicht offen angesprochen werden. Das kann langfristig zu einer Verschlechterung der Beziehung führen, da unausgesprochene Konflikte und Probleme sich aufstauen und letztendlich zu einem Bruch führen können. Daher ist es wichtig, dass Paare, Kollegen, ja sogar Staaten, den Konflikt als Chance verstehen, ihre Beziehung zu verbessern und zu stärken. Konstruktive Konflikte ermöglichen es, dass sich beide Partner weiterentwickeln, ihre Beziehung vertiefen und gemeinsam Möglichkeiten für konkrete Problemstellungen finden können. Wie oben angedeutet ist es deshalb wichtig, dass der Streit in einer Beziehung auf respektvolle und konstruktive Art und Weise ausgetragen wird. Das bedeutet, dass beide Partner ihre Gefühle äußern können, ohne den anderen zu verletzen oder herabzuwürdigen. Es geht darum, sich gegenseitig zuzuhören und die Perspektive des Anderen (doxastisch) zu verstehen, anstatt nur die eigene Meinung (dogmatisch) zu vertreten. Es ist jedoch auch wichtig zu betonen, dass nicht jeder Streit konstruktiv ist. Wenn ein Streit in einer Beziehung zu Herabwürdigung, verbaler oder sogar körperlicher Gewalt führt, sollte das in keiner Weise toleriert werden. Auch kleine, aber ständige Streitereien und fehlender Respekt füreinander können Zeichen dafür sein, dass die Beziehung auf ungesunde Weise belastet wird.

Letztendlich kann, auf die eingangs angesprochene Frage, ob eine Beziehung ohne Streit erstrebenswert sei, konstatiert werden, dass die hier dargelegte konstruktive Form des Streits in Beziehungen eine wichtige Rolle spielt. Jede gelungene Beziehung braucht den Streit, um Konflikte anzusprechen, Probleme zu lösen und die Beziehung zu vertiefen. Wichtig ist, dass der Streit auf eine respektvolle und konstruktive Art und Weise ausgetragen wird, um das Fundament der Beziehung zu stärken und gemeinsam zu wachsen. Ergo: Es mag durchaus möglich sein, eine Beziehung eine gewisse Zeit lang ohne Streit zu führen. Allein, Beziehung kann nur dauerhaft funktionieren, wenn Konflikte und Streit zugelassen werden – natürlich in einer respektvollen 'Streit-Kultur'!

Text: AH Dante
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zuletzt geändert: 14.09.2024 um 14.18 Uhr