Nummer 2/2024
40 Jahre danach …


Vor 75 Jahren ist der dystopische Roman '1984' erschienen. Werfen wir 40 Jahre später einen Blick zurück in die Zukunft.


In meiner Schulzeit gehörte das Buch 'Animal Farm' von George Orwell, das gerade in Form einer zeitgenössischen Oper an der Wiener Staatsoper aufgeführt wird, zur Pflichtlektüre für angehende Maturanten. Seinen Roman '1984' habe ich erst als Student gelesen, als das titelgebende Jahr schon relativ kurz bevorstand. Zu Beginn des heurigen Jahres ist mir dieses Buch wieder in die Hände gefallen und ich habe beschlossen es nochmals zu lesen, um mir den Inhalt in Erinnerung zu rufen und mich auch über den Autor zu informieren, da mein Wissen über ihn aus der schulischen Literaturgeschichte schon ziemlich verblasst war. Laut Wikipedia wurde George Orwell 1903 als Eric Arthur Blair in der damals britischen Kolonie Indien geboren. Er erlebte den Ersten Weltkrieg als Kind bzw. Jugendlicher in England und kämpfte später als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg. In den 1930er-Jahren begann er unter seinem Pseudonym zu schreiben und setzte diese Tätigkeit auch während des Zweiten Weltkrieges fort, da er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes nicht als Freiwilliger in der Armee dienen konnte. Obwohl (oder weil) er überzeugter Sozialist war, rechnete er in seiner 1945 erschienen, satirischen Fabel 'Die Farm der Tiere', in der er das Scheitern der Russischen Revolution beschreibt, mit dem kommunistisch-stalinistischen System der Sowjetunion ab. Auch in seinem letzten Werk '1984', dessen weltweiten Erfolg er nicht mehr erleben durfte, da er Anfang 1950 – kurz nach der Veröffentlichung – starb, befasste er sich mit den Schrecken eines totalitären Staates.

Wie es scheint, sind viele der schaurigen Visionen von Orwell in den letzten Jahrzehnten in großen Teilen unserer Welt zur traurigen Realität geworden. Laut dem Demokratie-Index leben nur rund 5% der Weltbevölkerung in einem jener ca. 20 Länder, welche als vollständige Demokratie gewertet werden. Mehr als die Hälfte aller Staaten der Erde – der Großteil Asiens und Afrikas – werden von autoritären Regimen beherrscht. Besonders vom postkommunistischen Russland wird uns gegenwärtig deutlich vor Augen geführt, dass der Herr des Kremls die Fiktionen Orwells scheinbar nicht als Warnung verstanden, sondern als Lehrbuch benutzt hat. Gemäß 'Neusprech' darf z.B. der seit zwei Jahren andauernde Krieg gegen die Ukraine, der bereits unzählige Menschenleben gekostet hat, nicht als solcher bezeichnet werden, sondern wird als Befreiung von Brüdern bezeichnet. Unabhängiger Journalismus ist verboten und über den 'Televisor' und die Parteimedien wird einseitige Propaganda verbreitet, die dazu führt, dass ein Großteil des russischen 'Proles' glaubt, in einem guten Land zu leben, das sie vor der Gefahr aus dem Westen beschützt, weshalb sie ihren 'Napoleon', wie das Oberschwein in der Animal Farm heißt, offenbar gerne mit großer Mehrheit wieder wählen. Das fällt natürlich umso leichter, wenn politische Gegner erst gar nicht zur Wahl zugelassen werden oder, wenn diese ihren Widerstand nicht aufgeben, im sibirischen 'Ministerium für Liebe' solange gefoltert werden, bis sie den 'Großen Bruder' lieben oder andernfalls 'vaporisiert' werden, wie dies mit einem Regimekritiker – allen öffentlichen weltweiten Protesten zum Trotz – kürzlich passiert ist.

Gott sei Dank sind aber (noch) nicht alle Orwell’schen Phantasien Realität geworden. Im Roman wird der Kontinent Eurasien, der geografisch aus Europa und Nordasien (insbesondere den Ländern der ehemaligen Sowjetunion) besteht, von Russland beherrscht und befindet sich im ständigen Krieg gegen Ostasien (vor allem China) oder Ozeanien (zu dem neben Amerika auch Australien und Großbritannien gehören). Wer jedoch glaubt, dass die Ideen aus dem Buch '1984' in der westlichen Welt keinen Platz haben, der irrt gewaltig. Zwar ist der 'Große Bruder' bei uns nicht eine alles beherrschende Partei, aber die Überwachung ist dennoch weit fortgeschritten und wird meist sogar freiwillig(!) unterstützt. Nicht genug damit, dass man bei der Benützung jeder App und jedes Computerprogramms einer Vielzahl von seitenlangen Benutzungsbewilligungen zustimmen muss, die es ausländischen Firmen, oftmals aus den USA, erlauben unsere Daten mitzulesen bzw. zu analysieren, um uns zielgerichtete Werbung zusenden zu können, stellen viele Menschen fast ihr ganzes Leben in sozialen Plattformen zur Schau, damit jeder weiß, wo sie gerade sind, was sie tun oder was sie essen. Darüber hinaus gibt es technische Einrichtungen wie z.B. Alexa, Siri oder die Sprachfunktion von Handys, welche unser Leben 'smart' machen indem sie gesprochene Befehle befolgen, aber dafür alles mithören können was gesprochen wird. Auch optische Überwachung ist allgegenwärtig. Abgesehen von eigens für diesen Zweck vorgesehenen Überwachungskameras an jeder Straßenecke und in vielen Geschäften, welche zwar nur für einen befristeten Zeitraum Aufzeichnungen machen dürfen, die aber oft auch für den Benutzer und allfällige Hacker weltweit abrufbar sind, könnten auch Kameras von Smartphones oder Notebooks mittels Viren manipuliert werden, um ihre Besitzer auszuspionieren. Darüber hinaus nutzen viele Menschen bereitwillig das Handy, eine Smartwatch, ein Fitnessarmband oder neuerdings sogar einen smarten Ring am Finger, um ihre Vitalfunktionen und körperlichen Aktivitäten von der künstlichen Intelligenz (oder gar dem Großen Bruder?) überwachen zu lassen.

Es sind aber nicht nur die Geheimdienste der Großmächte und die internationalen IT-Technologie-Konzerne, die uns ständig überwachen. Auch 'die Gesellschaft' – d.h. diejenige Minderheit, die im jeweiligen Land am lautesten schreit bzw. mittels Influencern und sozialen Medien die größte Reichweite erzielt – spielt die Rolle des Großen Bruders. Das beginnt ganz harmlos damit, dass einem von klein auf durch Werbung und Medien ständig suggeriert wird was 'man' (gemeint ist meist 'kind' oder 'frau') tragen muss, um zur auserwählten Gruppe dazu zu gehören. Wie bei Orwell wird einem auch andauernd mitgeteilt, was man gemäß 'Neusprech' noch sagen darf bzw. was man Denken soll, um sich nicht eines 'Gedankenverbrechens' schuldig zu machen. Althergebrachte Wörter mit verständlicher Bedeutung wie z.B. 'Asylant' oder 'Behinderter' (um nicht wieder einmal das N-Wort zu erwähnen) werden als abwertend definiert und durch umständliche Umschreibungen wie 'Asylsuchende' oder 'Menschen mit besonderen Bedürfnissen' ersetzt. Lebensformen, die es immer gab, obwohl sie jahrhunderte- oder gar jahrtausendelang verpönt oder gar verboten waren, werden nicht einfach als normale Varianten toleriert, sondern in der Sprache und in der Kultur (z.B. Film oder Theater) überproportional dargestellt, als wären sie Ideale, denen alle nachzueifern hätten. Es gibt kaum einen trivialen Fernsehkrimi (geschweige denn anspruchsvollen Film), in dem mittlerweile nicht Angehörige der 'LGBTQIA+'-Szene und/oder 'BPoC' eine (Haupt)Rolle spielen.

Ein besonders beliebtes Spiel von 'Gutdenkern' ist es, in sicheren Ländern wie Österreich mit dem geschichtlichen Wissen der Gegenwart in der Vergangenheit zu wühlen, um Menschen, deren Leben oder Verhalten aus heutiger Sicht moralisch zweifelhaft erscheint, aus dem kollektiven Bewusstsein auszulöschen, wie das im Roman 1984 vom Wahrheitsministerium, dem sogenannten 'Miniwahr', gemacht wird. Die Diskussion um den ehemaligen Bürgermeister Lueger ist sattsam bekannt. Zu weiteren Opfern, denen laut einem Projekt der Universität Wien eine posthumen Aberkennung ihrer Ehrungen sowie die Auslöschung ihrer Namen von Straßentafeln und die Beseitigung von Denkmälern droht, gehören unter anderem der Dichter Josef Weinheber, der lange vor dem Krieg sogar kurzzeitig mit einer Jüdin verheiratet war und sich vor dem Einmarsch auch gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland ausgesprochen, aber später anscheinend seine Meinung geändert hat, und der Nobelpreisträger Konrad Lorenz. Letzterer hat seine zahlreichen Auszeichnungen aber nicht während der NS-Zeit, sondern erst etwa 20 bis 40 Jahre nach Ende des Krieges(!) erhalten. Auch George Orwell hat sich laut seiner Biografie in jüngeren Jahren antisemitisch geäußert, diese Haltung aber später entschieden abgelehnt. Betrachtet man die österreichische Politik der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts genauer, wird man feststellen, dass der allseits geliebte rote Sonnenkönig Bruno sogar eine Regierung mit ehemaligen NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern gebildet hat, während heutzutage vor dem Wiener Parlament und anderswo mit Schlachtgesängen wie 'auf die Barrikaden' gegen Rechtsextremismus demonstriert wird, obwohl dieser (im Unterschied zur NS-Wiederbetätigung) laut unserer Verfassung gar nicht unter das Verbotsgesetz fällt.

Obwohl ich selbst kein Fan von Extremismus (egal von welcher Seite) bin, finde ich es bedenklich, dass Menschen in einem Land, in dem angeblich Meinungsfreiheit herrscht, vorbeugend eine Gefahr für die Demokratie befürchten, wenn sich das Volk (= griechisch: demos) bei der kommenden Wahl mehrheitlich für konservative Parteien entscheiden sollte. Jenen Personen, die grundsätzlich gegen die Anerkennung von Mehrheiten sind, welche ihrer eigenen Weltanschauung widersprechen und denjenigen, die aus der westeuropäischen Sicherheit heraus Menschen früherer Epochen kritisieren, empfehle ich ein Oneway-Ticket nach Moskau zu erwerben und dort am Roten Platz gegen politisch motivierte Morde zu demonstrieren, wenn sie sich das trauen.
Text und Bild: DDr.cer. Raffael
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zuletzt geändert: 07.03.2024 um 20.22 Uhr