Nummer 5/2023
Phantastisch realistisch

Entgegen der Meinung mancher skeptischer Kritiker wird auf den Buden der meisten Korporationen keinesfalls nur Bier getrunken, sondern als Abwechslung zu den Kneipen werden im Sinne des Prinzips 'Scientia' auch wissenschaftliche Abende angeboten, in denen es manchmal auch um die Kunst geht.



Arik Brauer 'Die Insel der Seligen'

Da mein erster kunsthistorischer Bierschwefel zum Thema 'Raffaels Weibsbilder' (siehe Blech-Bote 8/2020) offenbar gut angekommen ist, habe ich mich an die Arbeit gemacht, um aus meinem reichhaltigen Foto-Archiv Bilder zu einem anderen Thema herauszusuchen, das mich seit langem interessiert: Die phantastische Malerei. Bei der Programmplanung für das Sommersemester wurde dann vereinbart den Lichtbilder-Vortrag 'Phantastischer Realismus – von der Antike bis zur Gegenwart' gemeinsam mit unser Freundschaftsverbindung e.v. C.oe.a.St.V. Elisabethina auf der gemeinsamen Carolinenbude zu halten. Leider kam es bei der Terminvereinbarung zu einem kleinen Missverständnis, weshalb in unserem mittels Blech-Box ausgesandten Semesterprogramm ein falscher Termin veröffentlicht wurde. Dieser Fehler wurde aber kurz darauf per Mail mit einem korrigierten Semesterprogramm berichtigt und auch in mehreren Newslettern wurde der 30.5.2023 als korrektes Veranstaltungsdatum verlautbart. Obwohl das der Dienstag nach dem langen Pfingstwochenende war und sich manche Interessenten wegen Urlaubs oder aus anderen Gründen entschuldigt hatten, war der Vortrag wieder sehr gut besucht, wenn man davon absieht, dass nur ein Drittel der Teilnehmer meine eigenen Bundesbrüder waren. Wie sich erst nach dem WA herausstellte hatten einige Tegetthoffer leider übersehen den Termin in ihren Kalendern zu korrigieren. Vor Beginn des Vortrags wurden wir von unseren Liesln kulinarisch versorgt und so konnten die Teilnehmer gestärkt meinen Ausführungen lauschen, deren Inhalt ich nachstehend versuche – ohne die zugehörigen Bilder – in Worte zu fassen.

Nach meiner eigenen Definition, die ich mir als Laie erlaube (darum auch der Untertitel 'kunsthistorischer Bierschwefel'), unterscheide ich zwischen realistischen und phantastischen Motiven. Als realistisch stufe ich dabei alle Darstellungen ein, die man theoretisch auch fotografieren könnte, also z.B. das Bild einer Familie, auch wenn es sich dabei nicht um eine fotorealistische Abbildung, sondern womöglich nur um eine Kinderzeichnung mit Strichmännchen oder um – manchmal gar nicht so unähnliche – Kunstwerke von z.B. Picasso handelt. Den Gegensatz habe ich mit folgenden Worten definiert: 'Phantasie ist ein falsch zusammengesetztes Puzzle der Realität'. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass der menschliche Geist zwar in der Lage ist großartige Dinge zu erfinden bzw. erschaffen, aber offenbar nicht imstande ist, sich etwas auszudenken, das nicht auf Elementen von bereits bekannten Dingen aufbaut. Ein Engel wird z.B. üblicherweise als Mensch (junger Mann, Kind oder auch nur Kopf) mit Flügeln (meist von Vögeln, manchmal auch von Insekten) dargestellt.

Als erstes stellt sich die Frage, wann und wo eigentlich der Ursprung der phantastischen Malerei zu suchen ist. Die sogenannte 'Wiener Schule des Phantastischen Realismus' ist zwar zweifellos ein Höhepunkt und ein sehr wichtiger Aspekt dieses Themas, die Anfänge liegen aber viel weiter zurück. Die Bilder, die von Hieronymus Bosch rund 500 Jahre früher gemalt wurden, gehören eindeutig auch in diese Kategorie. Aber nach meiner Definition liegt der Beginn noch viel weiter zurück. Bereits in den ägyptischen Pyramiden und im antiken Griechenland finden sich Abbildungen von Mischwesen zwischen Mensch und Tier. Die Ägypter haben ihre Götter in den Grabmälern der Pharaonen, welche etwa 2.500 v.Chr. gebaut wurden, mit Tierköpfen dargestellt (z.B. Horus als Falke) oder Sphinxe mit Löwenkörpern und Menschenköpfen erschaffen. Bei den alten Griechen und Römern findet man, z.B. auf Tongefäßen, noch mehr und vielfältigere Abbildungen von Phantasiegestalten. Diese Gestalten gehen auf die mythologischen Götter- und Heldenepen von Homer zurück, der vermutlich etwa um 800 v.Chr. gelebt haben soll und haben auch spätere Autoren wie z.B. Herodot oder den römischen Dichter Ovid, der zur Zeit um Christi Geburt lebte, inspiriert. Seine phantasievollen Ungeheuer-Beschreibungen beeinflussen die Kunst bis in die Gegenwart, also seit fast 3.000 Jahren!

Zur bildenden (d.h. abbildenden bzw. gestaltenden) Kunst gehören neben alle Arten von Grafik und Malerei auch die Bildhauerei und die Baukunst. Aus der Zeit der Urgeschichte sind nur wenige Funde vorhanden wie z.B. Höhlenmalereien oder kleine Statuetten wie die Venus von Willendorf. Erst als die Menschen sesshaft wurden, haben sie damit begonnen auch Gebrauchsgegenstände wie Gefäße, Kleidung oder Waffen zu verzieren. Aber richtige Kunstwerke dürften anfangs vorwiegend aus religiösen Gründen, wie der Veranschaulichung von Göttern, erschaffen worden sein, bevor sie auch für profane Zwecke, wie zur Darstellung von Herrschern, verwendet wurden. Die Malerei als Verzierung von Wänden entwickelte sich erst in der Antike mit der Entstehung von massiven Baulichkeiten, jedoch blieb aus dieser Epoche nur wenig erhalten. Etwas mehr Zeugnisse wie z.B. Mosaike gibt es aus frühchristlicher und byzantischer Zeit. Die klassische Malerei auf mobilen Holztafeln und später auf Leinwänden entstand erst im Mittelalter und diente ebenfalls primär dem Schmuck der Kirchen oder Paläste. Erst zu Beginn der Neuzeit, also mit der Renaissance, wurde durch die Entwicklung des Druckverfahrens Kunst für mehr Menschen erschwinglich. Gleichzeitig wurden die Bilder durch die Perfektionierung der perspektivischen Darstellungen, wie sie Raffael als einer der ersten Maler meisterlich beherrschte, wesentlich realistischer und ausdrucksstärker als in der Zeit davor.

Damit zurück zur phantastischen Malerei. Diese hatte in der Renaissance ihre erste wirkliche Blütezeit. Einerseits haben viele Künstler bzw. deren Auftraggeber nach dem 'finsteren' und sittenstrengen Mittelalter die Wiederentdeckung der Antike als Vorwand genutzt, um mittels Themen aus der griechisch-römischen Mythologie unter anderem Szenen mit nackten Menschen malen bzw. betrachten zu können. Andererseits bot auch die Kirche nicht nur mit der Gestaltung von Altarbildern, sondern auch mit Aufträgen zur Ausschmückung der Wohnsitze der Kirchenfürsten reiche Gelegenheiten zur Verwendung phantastischer Motive. Neben den Engeln, in den verschiedenen, oben bereits beschriebenen Formen, wurden manche Heilige (z.B. Georg und Margarethe) als Bezwinger des Bösen mit Drachen dargestellt oder Märtyrerinnen und junge Damen mit Einhörnern, als Attribut der Jungfräulichkeit, gemalt. In paradiesischen Szenen aus der Zeit um 1500 findet man auf mehreren Altarbilden sowie in vatikanischen Fresken eine weitere Phantasiegestalt: Die Schlange, die Eva in Versuchung führt, wurde mit dem Oberkörper einer Frau abgebildet. Erst bei der Zusammenstellung meines Vortrages wurde mir bewusst, dass auch in den Bildern von Raffaelo Santi (1483 – 1520) all diese Motive zu finden sind.


Raffaels 'Erzengel Michael' kämpft mit phantastischen Ungeheuern

Während in den religiösen Gemälden der meisten Künstler Phantasiefiguren eher nur am Rande in Erscheinung treten, hat einer ihnen die Hauptrollen zugeteilt. Der niederländische Maler Hieronymus Bosch (1450 – 1516), der eigentlich mit dem Namen van Aken geboren wurde, hat zwei Flügelaltäre geschaffen in denen er die Versuchungen bzw. Sünden der Menschheit sowie deren Bestrafung in der Hölle mit zahlreichen symbolischen Szenen, die in ihrer Fülle an ein Wimmelbild erinnern, darstellt. Das bekanntere Werk 'Der Garten der Lüste' befindet sich im Prado in Madrid, das andere, der 'Weltgerichts-Triptychon' hingegen in Wien. Beiden ist gemeinsam, dass auf dem linken Altarflügel das Paradies und auf dem rechten die Hölle gezeigt wird. In der Mitte befindet sich das sündhafte Treiben auf der Erde und darüber – allerdings nur auf dem in Wien befindlichen Bild – der Himmel mit Jesus als Weltenrichter. Aufgrund dieser Werke ist Bosch meines Erachtens als erster wirklicher Phantast anzusehen.

In der Zeit Spätrenaissance trat dann ein weiterer Phantast in Erscheinung, der in Mailand geborene Giuseppe Arcimboldo (1526 – 1593). Er stieg zum Hofmaler der Kaiser Ferdinand, Maximilian II. und Rudolf II. auf und schuf in Wien und Prag allegorische Bilder, bei denen die gemalten Gesichter je nach Thema aus verschiedenen Blumen, Früchten, Tieren oder zum Beispiel auch aus Büchern zusammengesetzt sind. Sein Stil wird dem Manierismus zugeordnet und seine Werke haben – ebenso wie jene von Hieroymus Bosch – nicht nur die unmittelbare Nachwelt stark beeinflusst, sondern dienten auch den Mitgliedern der Wiener Schule des Phantastischen Realismus als Vorbild und werden bis heute von jungen Künstlern als Quelle der Inspiration genutzt.

Während trotz aller phantasievollen Elemente die realistische Darstellung von Menschen, Stillleben, Landschaften oder sonstigen Motive bis ins 19. Jahrhundert im Vordergrund stand, hat sich die Bedeutung und der Inhalt der Malerei nach der Erfindung der Photographie rasch gewandelt und es entstanden neue Stilrichtungen. Auf ganz eigene Weise phantastisch sind z.B. die Holzschnitte und Lithografien von Maurits Cornelis Escher (1898 – 1972), einem niederländischer Grafiker, der durch Bilder von unmöglichen geometrischen Figuren und Baulichkeiten bekannt wurde. Er erschuf durch die absichtlich falsche zweidimensionale Abbildung von dreidimensionalen Gegenständen unrealistische Objekte, die den Betrachter durch verzerrte Perspektiven und optische Täuschungen in ihren Bann ziehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich auch der Surrealismus. Einige der bedeutendsten Vertreter dieser Stilrichtung sind der deutsche Maler Max Ernst (1891 – 1976), der Belgier Renι Magritte (1898 – 1967) und der Spanier Salvador Dali (1904 – 1989), um nur drei Beispiele zu nennen.

Auch schon davor, um die Jahrhundertwende, haben sich manche Künstler mit phantastischen Themen beschäftigt. In einigen Jugendstil-Werken werden mythologische Themen behandelt, wie z.B. die 'Danae' von Gustav Klimt (1862 – 1918) beweist. Dieser war ein Lehrer von Albert Paris Gütersloh (1887 – 1973), welcher zwar selbst kaum phantastische Motive malte, aber später seinerseits auch an der Akademie der bildenden Künste unterrichtete und Lehrer der bekanntesten Vertreter der Wiener Schule des Phantastischen Realismus war. Dieser Begriff wurde von Kunstkritikern bzw. -historikern in den 50er-Jahren geprägt und bezeichnet eine Gruppe von ca. 30 österreichischen Künstlern die – so wie vor ihnen die Secessionisten um 1900 – auch international von Bedeutung sind. Die Phantasten studierten die Techniken von Arcimboldo, Bosch und anderen alten Meistern, wurden aber auch von der Malweise der Surrealisten und von der Psychoanalyse Freuds beeinflusst. In Traumbildern verarbeiteten sie teilweise die Ereignisse des 2. Weltkrieges, den sie mit Ausnahme des etwas älteren Hausner als Kinder bzw. Jugendliche miterleben mussten. Im Unterschied zu Surrealisten werden die Figuren von den Phantasten zumeist anatomisch korrekt dargestellt und oft auch mit Landschaften zu einer erzählenden Malerei verflochten. Zu den Mitbegründern der Wiener Schule zählte auch Helmut Leherb (1933 – 1997), der sich später aber mehr dem Surrealismus zuwandte, während die übrigen Künstler der phantastischen Malweise treu blieben.

Zu den bekanntesten Phantastischen Realisten gehört der schon erwähnte Rudolf Hausner (1914 – 1995), durch dessen Werke sich seine Selbstportraits als Adam als charakteristisches Motiv ziehen. Anton Lehmden (1929– 2018) wurde als einziges Mitglied dieser Gruppe nicht in Wien, sondern in der Tschechoslowakei geboren. Seine Bilder sind stark vom Krieg beeinflusst oder stellen oft phantastische Landschaften dar, welche in einer Art zeichnerischen Malerei mit fließenden Strichen gestaltet sind. Wolfgang Hutter (1928 – 2014) wurde im Testament von Gütersloh als dessen leiblicher Sohn anerkannt und malte vorwiegend phantasievolle Gärten und Landschaften in kräftigen Farben, in denen erotischen Figuren, vorwiegend Mädchen, mit Blumen oder Schmetterlingen bzw. der Landschaft zu einer Einheit verschmelzen. Ernst Fuchs (1930 – 2015) war jüdischer Abstammung, wurde aber schon als 12-jähriger röm.-kath. getauft. Er malte vorwiegend ausdrucksstarke mythologische Motive, aber behandelte in seinen Gemälden auch oft religiöse Themen. Arik Brauer (1929 – 2021) war Sohn jüdischer Einwanderer aus Litauen, dessen feine Maltechnik stark durch das Studium von Breughel-Gemälden beeinflusst wurde. Viele seiner Werke zeichnen sich durch besonders kräftige Farben und Lichtstimmungen, die das Bild von innen heraus leuchten lassen, aus.

Meine eigene Erkenntnis, die mir im Zuge der Vorbereitung dieses Vortrags kam und die ich am Ende präsentierte, ist: 'Phantasie & Kunst sind die Gaben, die den Menschen vom Tier unterscheiden.' Obwohl meine Ausführungen länger als eineinhalb Stunden gedauert haben, hat das Publikum geduldig und wie mir scheint auch interessiert zugehört, weshalb ich hoffe, dass alle Anwesenden mit dem Verlauf des Abends ebenso zufrieden waren wie ich selbst.
Text und Bilder: DDr.cer. Raffael
Kontakt für allfällige Rückmeldungen:
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zuletzt geändert: 05.06.2023 um 21.06 Uhr